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tiefer Brust die ungewöhnlichen und sogar die aufreizenden Abfol-
gen, schließlich die atonalen Geräusche und Mißtöne wie Dissonan-
zen — so sehen wir die Kunst der letzten hundert Jahre vom
Rohen zu immer Roherem hinabsinken!
Wir aber erkennen: Je roher die Gestaltung, umso weniger ver-
mag sie die tiefen Bedeutungselemente der Eingebungsinhalte zu
tragen!
Man erkennt darin leicht den Absturz, welcher in der jüngst-
vergangenen Formgebung allgemein liegt. Insbesondere zeigt sich,
daß Dramen in Prosa nur rohe und arme Inhalte darstellen können.
Wie wären die leeren, hausbackenen Dramen I b s e n s z. B. in
gebundener Sprache möglich?
Dagegen steht als unabdingbares Gesetz: Je durchgebildeter, zar-
ter und reicher die Gestalt, umso mehr vermag sie aus dem Ein-
gebungsinhalte herauszuholen!
Nur die r e i c h e G e s t a l t und die Gestalt als z a r t e s
M e d i u m vermag Reinheit, Kraft, Wahrheit und Tiefe der Ein-
gebung in sich aufzunehmen und darzustellen! — Zum Beispiel
kann L e o n a r d o (namentlich in seinen Handzeichnungen)
durch Zartheit Unvergleichliches ausdrücken; oder kann die Fülle in
„Wallensteins Lager“ ohne eine reiche Sprache und deren Verman-
nigfaltung durch Rhythmus und Reim (welche zahllose Abschat-
tungen ermöglichen) nicht dargestellt werden.
Der zeitgenössische Kunstrichter und Leser ist so primitiv, leer
und gemütsarm, daß er die hohe, durchgebildete, das Zarte aufzu-
nehmen fähige Form leicht als unwahr und verstiegen zu bezeich-
nen geneigt ist! Wenn z. B. Thekla zu Max (im „Wallenstein“) sagt:
„In meiner Seele lebt ein hoher Mut, die Liebe gibt ihn mir“; so
soll das verstiegen sein! Und doch ist es der Kern der echten Emp-
findung jedes einfachsten Mädchens; mag sie es auszudrücken ver-
mögen oder nicht, sie wird es in Taten bewähren!
Auch versteht man nicht, daß im Drama Max gegen Wallenstein
den reinen Idealisten vertritt, welchem das Gute und gleichsam der
Wandel vor Gott am Herzen liegt, während Wallenstein den großen
Politiker niedriger Ebene, also den Machiavellisten, darstellt — das
soll verstiegen sein? Nein, der heutige Mensch ist zu tief gesunken,
um eine solche sittliche Höhe zu begreifen! Es fehlt dem heutigen
Menschen an Innenleben, daher auch an sittlicher und philosophi-