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„Da muß ich dann von dem Brennpunkt der Begeisterung die Melodie nach
allen Seiten hin ausladen, ich verfolge sie, hole sie mit Leidenschaft wieder ein,
ich sehe sie dahinfließen, in der Masse verschiedener Aufregungen verschwinden,
bald erfasse ich sie mit erneuter Leidenschaft, ich kann mich nicht von ihr trennen,
ich muß mit raschem Entzücken in allen Modulationen sie vervielfältigen, und im
letzten Augenblick, da triumphiere ich über den ersten musikalischen Gedanken:
sehen Sie, das ist eine Symphonie. Ja, Musik ist so recht die Vermittelung des
geistigen Lebens zum sinnlichen. - Melodie ist das sinnliche Leben der Poesie.
Wird nicht der geistige Inhalt eines Gedichtes zum sinnlichen Gefühl durch die
Melodie? Empfindet man nicht in dem Lied der Mignon ihre ganze sinnliche
Stimmung durch die Melodie? ... Es gehört Rhythmus des Geistes dazu, um
Musik in ihrer Wesenheit zu fassen, sie gibt Ahnung, Inspiration himmlischer
Wissenschaften, und was der Geist sinnlich von ihr empfindet, das ist die Ver-
körperung geistiger Erkenntnis. Obschon die Geister von ihr leben, wie man von
der Luft lebt, so ist es noch ein anderes, sie mit dem Geiste zu begreifen; je
mehr aber die Seele ihre sinnliche Nahrung aus ihr schöpft, desto reifer wird der
Geist zum glücklichen Einverständnis mit ihr. Aber wenige gelangen dazu; denn
so wie Tausende sich um der Liebe willen vermählen und die Liebe in diesen
Tausenden sich nicht einmal offenbart, obschon sie alle das Handwerk der Liebe
treiben, so treiben Tausende einen Verkehr mit der Musik und haben doch ihre
Offenbarung nicht; auch ihr liegen die hohen Zeichen des Moralsinns zugrunde
wie jeder Kunst... Wenige verstehen, welch’ ein Thron der Leidenschaft jeglicher
einzelner Musiksatz ist - und wenige wissen, daß die Leidenschaft selbst der
Thron der Musik ist.“
1
Die zartesten und der reichsten Gliederung fähigen Mittel, Spra-
che und Tonwelt, bilden demnach die Höhepunkte der Schönheit:
in D i c h t u n g u n d T o n k u n s t !
VII.
Weiteres über urgestaltende und ausgestaltende Kunst
Nachdem wir nun die Welt der Gestaltungen, die wir am Schö-
nen zu unterscheiden haben, überblickten, kehren wir wieder zu
unserer ersten Unterscheidung, jener der geistigen Gestalten in eine
Grund- oder Urgestalt, welche den Kern der Eingebung vornehm-
lich wiedergibt, und ihrer Entsprechungs- oder Folgegestalten nähe-
rer und fernerer Ordnung zurück.
Wir nannten das den i n n e r e n G l i e d e r b a u v o n G e -
s t a l t u n g e n geistiger Art in jedem Schönen.
Wir bezeichneten damit eine neue Denkaufgabe der Kunstphilo-
sophie überhaupt und der Gestaltenlehre oder Morphologie im
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Angeführt bei Karl Scheffler: Form als Schicksal, Erlenbach-Zürich 1939,
S. 22.