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als aus dem Gesamtbegriffe und dem Gliederbau der Begriffe zu-
gleich als abgeleitet betrachtet werden können) und, dem Ergebnisse
nach, die W a h r h e i t erlangend. Im Falle des Gestalters oder
Künstlers heißt diese Arbeit: a u s g e s t a l t e n d , f o r t g e -
s t a l t e n d , d u r c h g e s t a l t e n d und, dem Ergebnisse nach,
die S c h ö n h e i t schaffend.
Die Wahrheit ist begrifflich gegliedert, die Schönheit ist gestalt-
lich gegliedert. Die Eingebung ist beiden gemein, bildet bei beiden
die Grundlage.
Je nach Tiefe, Gegenstand und Umfassendheit der Eingebung
wird die Lehre g r u n d l e g e n d für das gesamte Wissen; das
Kunstwerk v o r b i l d l i c h , im äußersten Falle s t i l b e -
g r ü n d e n d für die gesamte Kunst. Im ersteren Falle kann man
an Platon und Aristoteles einerseits, Galilei und Newton anderer-
seits denken; im letzteren an Homer, Aischylos, Shakespeare,
Goethe, die Romantik.
Hieraus nun eine wichtige Folgerung! Wie die Logik ihre Gesetze
der Begriffsbildung, so hat die ausgestaltende Kunst ihre Gesetze
der Gestaltenbildung.
Über die Gestaltenbildung stellten schon die Alten ihre Beobach-
tungen an, wie z. B. die dramatischen Gesetze des Aristoteles be-
weisen; und die Neueren suchten sie seit Winckelmann und Lessing
zu erweitern
1
.
Ehe wir von hier aus weitergehen, hören wir kurz das Wesent-
lichste der herkömmlichen Lehre, sofern sie die Gliederungen der
Gestaltungen des Kunstwerkes vielfach mit Sorgfalt und Scharfsinn
zu untersuchen trachtete.
B.
Die h e r k ö m m l i c h e L e h r e d e r
G e s t a l t u n g s g e s e t z e
Nehmen wir wieder das Schauspiel als die geistigste, gestalten-
reichste und zugleich am strengsten einheitliche Gattung der Dicht-
kunst, wie zuletzt aller Künste, zur Grundlage.
1
Wir nennen als zusammenfassende Werke, die heute noch gelten, nur: Wil-
helm Wackernagel: Poetik, Rhetorik und Stilistik, akademische Vorlesungen, her-
ausgegeben von Ludwig Sieber, Halle 1873; Gustav Freytag: Die Technik des
Dramas, 12. Aufl., Leipzig 1910.