288
dinge nannte — „Leben atme die bildende Kunst“ — nennen wir
in diesem Zusammenhange das „Vorsinnliche“, „Vorstoffliche“,
„Vorzeitliche“, „Vorräumliche“ der Naturdinge, wir können auch
kurz sagen, ihre N a t u r s e e l e . Diese Naturseele ist gerade das,
was sich in dem Wasser, dem Kristalle, den Bergen und Tälern ver-
räumlicht, verstofflicht, verzeitlicht (wie ich das in meiner „Natur-
philosophie“ näher auseinandersetzte).
Stellt die bildende Kunst diese Naturseele an den D i n g e n
selbst dar, dann ist sie Naturmalerei, Naturbildnerei, Naturbau-
kunst (nämlich sofern sie durch die Werkstoffbeschaffenheit wirkt).
Stellt sie aber den M e n s c h e n dar, was sie freilich mittels der
Naturdinge, der Leiblichkeit, tun muß, dann ist es nur mittelbar
die Naturseele des Stoffes, mit der sie arbeitet; was sie anstrebt,
ist vielmehr, die Innerlichkeit des Menschen selbst darzustellen.
Aber sie muß es von der N a t u r s e i t e her tun!
Der höchste Gegenstand der Dicht- und Tonkunst ist der Mensch
und die Gottheit; der höchste Gegenstand der Malerei und Bildne-
rei, mittelbar auch der Baukunst, ist ebenfalls der Mensch und die
Gottheit.
Das Wesentliche, bisher in der Kunstphilosophie Übersehene ist
nun, daß die bildenden Künste das Innere des Menschen durch
solche leibliche Gebilde darstellen, w e l c h e s e l b s t e i n e I n -
n e r l i c h k e i t h a b e n , i h r e N a t u r i n n e r l i c h k e i t
o d e r N a t u r s e e l e . Der übersinnliche Strahlenglanz im Auge
der Dresdener Madonna Raffaels, das unenträtselbare Lächeln der
Mona Lisa Leonardos — wäre als Gestaltung einer Innerlichkeit
des Menschen nicht verwendbar, wenn Licht, Farbe und Raum-
zeichnung nicht eine eigene Naturinnerlichkeit hätten, die als Un-
terlage und Werkzeug für die Darstellung der höheren Innerlichkeit
des Menschen geeignet wäre!
Wir können das die F r a g e d e r E i g n u n g der Ausdrucks-
oder Gestaltungsmittel der Künste, namentlich der bildenden Kün-
ste, nennen: Wie kommen Raum, Licht, Farbe, Sinnlichkeit, Stoff-
lichkeit dazu, den Künsten als Gestaltungsmittel zu dienen, w i e
v e r m ö g e n d i e K ü n s t e m i t e i n e m b l o ß Ä u ß e r -
l i c h e n e i n I n n e r e s a u s z u d r ü c k e n ?
Wir stießen bei der Unterscheidung der mannigfaltigen Gestal-
tungsebenen der Künste bereits auf diese Frage und nannten dort