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daß er getreulich der Eingebung zu folgen und, so dürfen wir es
erläutern, nicht zu künsteln habe:
Es trägt Verstand und rechter Sinn
Mit wenig Kunst sich selber vor!
Und wenn’s euch ernst ist, was zu sagen,
Ist’s nötig, Worten nachzujagen?
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Goethe spricht damit den Vorrang der Eingebung aus: Die Gestal-
tung folgt dem, w a s zu sagen ist, von selbst nach.
Aus allem Gesagten ist ersichtlich, daß die Vollkommenheit der
Gestaltung, da sie nur der Eingebung ebenbildlich ist, aus sich
selbst k e i n e A r t e n d e s S c h ö n e n zu begründen ver-
möge!
Wenn Schiller dennoch A n m u t u n d W ü r d e als Arten
der Gestaltung unterschied, so geschah dies aus anderen Gesichts-
punkten heraus! Schiller bestimmte geistvoll und wahr die Anmut
als „die Schönheit der Gestalt unter dem Einfluß der Freiheit“ und
unterschied sie von der Würde als der „Beherrschung der unwill-
kürlichen Bewegung“. Schritte man aber auf diesem Wege fort,
dann müßten wir z. B. auch das D e r b e u n d P l u m p e der
Gestalt hinzufügen; allerdings stets unter der Voraussetzung der
vollkommenen Entsprechung zur Eingebung. Das Wesen des gestal-
teten Gegenstandes, z. B. der Hanswurst, kann nämlich auch Derbes
und Plumpes fordern! Aber gerade darin zeigt sich, daß Anmut und
Würde ebensowenig wie Derbheit und Plumpheit aus der Gestal-
tung selbst (in ihrer Ebenbildlichkeit), vielmehr aus dem Inhalte
der Eingebung folgen.
C.
Die A r t e n d e s S c h ö n e n a u s d e r R ü c k v e r b u n -
d e n h e i t : d a s M y s t i s c h - S c h ö n e , d a s F r o h l o k -
k e n d - S c h ö n e u n d T r a g i s c h - S c h ö n e , d a s U n h o l -
d i s c h - S c h ö n e
Der Mensch muß aller Dinge als in einem höheren Zusammen-
hange enthalten, befaßt, rückverbunden inne werden. Nenne man
nun dieses Innewerden „kosmisches Gefühl“ oder „übersinnliche
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Goethe: Faust, S. 30.