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Die Schöpfung
(Ein Morgengesang)
(Beim Sonnenaufgang durchmaß der entzückte Betrachter die ganze Stufenleiter
der Geschöpfe)
... Die Schöpfung, itzt am Ziel,
Harret, schweigt noch! - Ihr Gefühl
Wandelt in sich und vermißt,
Was Geschöpf und Schöpfer ist;...
Neu Geschöpf, wie nenn’ ich dich! -
Gott der Schöpfung, lehre mich -
Doch ich bin, ich bin es ja,
Dem dies Gottesbild geschah! -
Ich wie G o t t ! Da tritt in mich
Plan der Schöpfung, weitet sich,
Drängt zusammen und wird Macht!
Endet froh und jauchzt: vollbracht! -
Ich wie Gott! Da tritt in sich
Meine Seel’ und denket mich!
Schafft sich um und handelt frei,
Fühlt, wie frei Jehova sei.
Ich wie Gott! Da schlägt mein Herz
Königsmut und Bruderschmerz.
Alles Leben hier vereint,
Fühlt der Mensch sich aller Freund;...
Immer tiefer, höher. Ich
Bin’s, in dem die Schöpfung sich
P u n k t e t , der in alles quillt,
Und der alles in sich füllt! -
Bis zur letzten Schöpfung hin
Fühlet, tastet, reicht mein Sinn!
Aller Wesen Harmonie
Mit mir - ja ich selbst bin s i e ! . . .
. . . - Freue dich,
Schöpfung und du, Menschenbild,
Wirker Gottes, da sie füllt
Und verwandelt! Groß bist du,
Mittelpunkt in Gottes Ruh’!
1
Mag man das auch Gedankenmystik nennen, in ihr wohnt und
lebt etwas vom Innersten der Mystik — und es ist gestaltet! Wir
1
Aus: Mystische Dichtung aus sieben Jahrhunderten. Gesammelt, übertragen
und eingeleitet von Friedrich Schulze-Maizier, Leipzig 1925, S. 342 ff. - Vgl. auch
S. 42 f.