319
stellt die heilige Geschichte in ihren Grundzügen dar. Man kann
allgemein für das Wesen des Gottesdienstes die Formel aufstellen
1
:
Göttliche Weltordnung = Opferordnung = Rechtsordnung (Gemeinschafts-
ordnung)
Was folgt daraus für das Schöne und das Drama? Zuerst: Sein
Ursprung aus dem Gottesdienste ist kein geschichtlicher Zufall, ent-
spricht vielmehr seinem innersten Wesen, einem Wesen, welches
dem Drama und aller Kunst irgendwie immer anhaftet, niemals
gänzlich verleugnet werden kann.
Allgemein gilt hier: Jede heilige Geschichte, die in der Mitte
einer Religion steht, enthält Grundzüge des Leidens der Welt, von
welchem sie zuletzt durch die Gottheit befreit, e r l ö s t wird! —
Eine Einsicht, die verdiente, zum Allgemeingut der Bildung zu
gehören!
Daraus folgt nun zwingend: Die U r p r ä g u n g d e s D r a -
m a s i s t n i c h t s c h l e c h t h i n d e r U n t e r g a n g d e s
H e l d e n , v i e l m e h r s e i n e e n d l i c h e E r r e t t u n g ,
E r l ö s u n g , A u f e r s t e h u n g ! Das ist der letzte Kern des
großen griechischen Dramas, zuletzt aller hohen Kunst überhaupt.
Wir werden das sogleich näher belegen, verweilen aber vorher
noch im Grundsätzlichen, auf das wir hier stoßen. Es ist dies die
Bedeutung der vielumstrittenen aristotelischen „K a t h a r s i s“,
das ist Reinigung, Sühnung. Wie kommt dieser Begriff in die kunst-
philosophische Theorie der Tragödie?
Nach Aristoteles bewirkt die Tragödie „durch Mitleid und Furcht
die Reinigung (κάύασφις
)
von diesen Leidenschaften“ (Affekten)
2
.
Merkwürdigerweise fragt man nicht darnach, wieso Aristoteles ge-
rade zu dieser Begriffsbestimmung komme und von Leidenschaften
(Affekten) anstatt etwa vom zermalmenden Schicksal rede. Der
Streit der Ausleger geht vielmehr seit langem und bis heute darum,
ob Aristoteles damit die Reinigung der Affekte selbst, nämlich im
Sinne einer Beruhigung, Herabstimmung, oder die subjektive Rei-
nigung der Seele des Zuschauers meinte. Goethe verlegt sie in den
Helden, was zweifellos sinnvoller ist, aber den Kern der Sache noch
1
die am angeführten Orte begründet wurde.
2
Aristoteles: Poetik 1449 b, 23 ff.