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nicht trifft. — Hält man sich nur an den überlieferten Wortlaut der

angeführten Stelle, so wird man nie weiterkommen!

Um der Stelle auf den Grund zu gehen, muß man sich vielmehr

auf das Wesen des athenischen Dramas besinnen! Dieses war ein

G o t t e s d i e n s t — und daraus erst folgt alles weitere! Der Got-

tesdienst führt etwas von der befreienden, erlösenden Gewalt des

Gottes vor und l ä ß t u n s d a r a n t e i l n e h m e n .

Wir behaupten daher, daß es verfehlt sei, den Begriff der Kathar-

sis oder Reinigung des Aristoteles in einem neuzeitlich-weltlichen

und bloß seelenkundlichen Sinne zu verstehen, wie bis jetzt aus-

nahmslos (sogar von Lessing, Theodor Vischer, Max Schasler und

allen neueren Ästhetikern, besonders den empiristischen) geschah.

Die Katharsis muß vielmehr religiös-metaphysisch, noch genauer

gesagt, aus dem Gottesdienste verstanden werden!

Wenn also Aristoteles von der Tragödie sagt, daß sie durch Mit-

leid und Furcht die „Reinigung von diesen Leidenschaften“ bewirke,

so handelt es sich um ein T e i l h a f t i g w e r d e n d e r H e i l s -

t a t d e s G o t t e s ; grundsätzlich ähnlich wie auch heute im

christlichen Abendmahl. Im Verlaufe des gottesdienstlichen drama-

tischen Geschehens wird die Seele in das Religiös-Metaphysische

erhoben, wird sie der Heils- und Erlösungstat des Gottes teilhaftig;

und in d i e s e r T e i l n a h m e a n d e r E r l ö s u n g liegt

die Katharsis, die Reinigung! Und diese Teilnahme selbst geschieht

durch Mitleid und Furcht, von denen eben die Heilstat des Gottes

erlöst.

K a t h a r s i s h e i ß t w o h l „ R e i n i g u n g “ , a b e r

i m S i n n e v o n H e i l i g u n g u n d d a m i t E r l ö s u n g .

Das läßt sich übrigens im besonderen auch durch eine Stelle des

Aristoteles selbst in der „Politik“

1

stützen, wo er von der Musik

sagt, daß durch h e i l i g e M e l o d i e n die Seele geheilt und

gereinigt werde, also durch ein l i t u r g i s c h e s Element, wel-

ches die Teilnahme am Gottesdienste besonders wirksam vermittelt.

Mit all dem ist auch die leidige Frage, ob es sich bei der Katharsis, wie oben

berührt, um die „Gefühle der Zuschauer“, das heißt ihre Leidenschaften, oder um

die auf der Bühne dargestellten Vorgänge (Leidenschaften) handle, entschieden:

Die Zuschauer ebenso wie die Darsteller sind Teilnehmer an einem Gottes-

dienste, und das in diesem dargestellte heilige Geschehen reinigt und versöhnt sie.

Nicht daß die am Ende des Dramas ermäßigte Leidenschaft nun den „Weg zu

1

Aristoteles: Politik VIII, 7, 1341b 36 und 1242d 8.