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So sage denn, wie sprech’ ich auch so schön?
worauf Faust antwortet:
Das ist gar leicht, es muß von Herzen geh’n.
Das Herz, die Eingebung, nicht Klügelei, noch Künstelei soll den
Reim bestimmen, so sagt hier Goethe.
Mag daher P l a t e n reinere, R ü c k e r t reichere Reime ha-
ben, Goethe bleibt Meister, weil er den Vorrang des Gehaltes immer
wahrt.
C. Die U n v o l l k o m m e n h e i t e n a u s d e r S c h w ä c h e
d e r R ü c k v e r b u n d e n h e i t
1. Das Weltbefangen-Schöne oder das „Bild ohne Gnade“
Die Schwäche der Rückverbindung hängt mit jener der Ein-
gebung innig zusammen, kann aber doch eine eigene Quelle der
Unvollkommenheit des Schönen werden.
Die Eingebung blickt mit Kinderaugen in die Welt, sie erschaut
im großen Stufenbau des natürlichen und geistig-sittlichen Kosmos
das Einfachste wie das Erhabenste. Wird dieses auch vollkommen
gestaltet, so bleibt doch noch eine letzte große Aufgabe: die Wahr-
nehmung des letzten großen Zusammenhanges des in der Eingebung
Erfaßten, die Rückverbundenheit.
Im Wesen der vollkommenen Eingebung liegt auch die vollkom-
mene Beschlossenheit, Rückverbundenheit des in der Eingebung
Erfaßten; aber dennoch kann diese als solche geschwächt werden.
Vollkommene Rückverbundenheit verleiht dem Schönen, wie
sich schon zeigte, einen m y s t i s c h e n Glanz, macht erst das
aus ebenmäßigen Verhältnissen hervorgehende Wohlgefügte der
Gestalt zur h o h e n S c h ö n h e i t ; wie es am unmittelbarsten
Goethes Worte ausdrücken:
Doch ist es jedem eingeboren,
Daß sein Gefühl hinauf und vorwärts dringt,
Wenn hoch im blauen Raum verloren
Sinnreim, Gedankenreim und Satzreim; welche Unterscheidungen man aber
kaum als glücklich und fruchtbar betrachten kann.