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Falle der Gehalt den Vorrang vor der Gestalt hat. Er bestimmt

auch dann, gemäß dem Wesen des Vorranges, nicht allein das

Schöne, denn die Gestaltung bleibt immer unentbehrlich; er be-

stimmt es nur als dem Wesen nach Vorgeordnetes, dem die Gestalt

zu dienen hat.

Das Vorgeordnete bleibt aber wesensgemäß auf ein Nachgeord-

netes angewiesen. Wie kein König ohne Land, so kein Gehalt des

Schönen ohne Gestalt.

Der Vorrang des geistigen Gehaltes liegt schon im Begriffe der

Gestaltung naturhafter Ebene selbst beschlossen. Denn diese Gestal-

tung ist ihrem Wesen nach nur etwas Übertragenes, wie sich schon

früher zeigte. Wir können das aber auch anders ausdrücken, indem

wir nämlich sagen, daß bei der Gestalt naturhafter Ebene alles dar-

auf ankomme, das Z e i t - R ä u m l i c h e - S i n n l i c h e z u

ü b e r w i n d e n und dem geistigen Gehalte nachzugehen; dieser

kann aber nur sinnbildlich, das heißt, eben auf übertragener Ebene

ausgedrückt werden!

Zum Schlusse können wir unsere Ansicht über den Vorrang des

Gehaltes vor der Gestalt naturhafter Ordnung noch durch einen

Hinweis auf Goethes Bewertung des Reimes erläutern und stützen.

Daß der Reim als ein Mittel der Gestaltung sinnlicher Ebene,

nämlich durch den Ton, sich dem Gehalte unterzuordnen habe,

folgt von selbst aus dem Vorrange des Geistigen. Goethe sagt dar-

über in einem bekannten Spruche:

Ein reiner Reim wird wohl begehrt,

Doch den Gedanken rein zu haben,

Die edelste von allen Gaben,

Das ist mir alle Reime wert.

„Gedanke“ bedeutet hier den Geistesgehalt der Eingebung, nicht

etwas Abstraktes.

Ewald Kunow macht in einer kleinen Schrift mit Recht darauf

aufmerksam, daß diese Ansicht Goethes, der Reim habe sich dem

„Gedanken“ unterzuordnen, auch im zweiten Teile des „Faust“, wo

Helena zum ersten Male Reime hört, anklinge

1

. Helena fragt dort,

entzückt vom Wohllaute des Reimes:

1

Ewald Kunow: Beobachtungen über das Verhältnis des Reimes zum Inhalte

bei Goethe, Stargard i. Pommern 1888, S. 18. - Kunow unterscheidet: Wortreim,