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großen Schicksale anvertraut; das Charakteristische tritt an die

Stelle des Schönen, die weltliche Verstrickung läßt die h o h e

Schönheit nicht aufkommen. Man kann die seelischen Feinheiten

bewundern, aber man kann nicht warm werden dabei — die welt-

liche Verstrickung bietet ein „Bild ohne Gnade“!

In diesem Charakteristischen (statt des Poetischen) tritt bis zu

einem gewissen Grade die E r f a h r u n g an die Stelle der Ein-

gebung! Jedoch, die Erfahrung ist, wie Goethe einmal sagte, „nur

die Hälfte der Erfahrung“

1

. Die andere Hälfte bildet ihre Rück-

verbundenheit.

Andere Beispiele bilden viele realistische Gemälde der niederlän-

dischen Schule, die sich oft in ihrer großartigen Naturwahrheit

erschöpfen, aber vom höheren Geiste und Wesen, von der Ideen-

welt, die auf ihrem Grunde wohnt, allzu wenig verspüren lassen.

Diesem Unmetaphysisch-Schönen oder Weltlich-Schönen ist es

auch eigen, ihren Gegenstand wesentlich im Schatten zu sehen und

die Welt in ihrem Widersinne unaufgelöst zurückzulassen. Hier

zeigt sich eine überraschende Entsprechung zwischen Schopenhauer

und Hebbel, schließlich der gesamten Moderne, insbesondere des

Atonalismus in der Musik. G o e t h e lehrt uns, dies zu durch-

schauen:

Der Gotteserde lichten Saal

Verdüstern sie zum Jammertal;

Daran entdecken wir geschwind,

Wie jämmerlich sie selber sind.

Hält man gegen Hebbels Dramen, die wir als Beispiele anführten, Werke der

R o m a n t i k , die in mancher Hinsicht als wesentlich schwächer zu betrachten

wären, so überragen sie doch durch das Metaphysisch-Schöne, durch die Rückver-

bundenheit, in der sie leben! Eichendorffs „Freier“ oder „Letzter Ritter von Marien-

burg“ z. B. erreichen nicht Hebbels dramatische Geschlossenheit; und Mörikes

„Maler Nolten“ bleibt an seelenkundlicher Wahrheit ebenfalls hinter Hebbel

zurück - nur eines haben sie alle vor Hebbel weit voraus, die kosmische Seele

alles Geschehens, die höhere Aufgehobenheit, die Rückverbundenheit! Nicht

kalt-weltliche Verstrickung nur, nein, höher gewirktes Schicksal trägt hier die Hel-

den, ein göttlicher Hauch erwärmt und heiligt alles.

1

Goethe: Maximen und Reflexionen, 712.