Die L e h r e v o n d e r G e s t a l t ist der Kern der Kunst-
philosophie. Bei der Bestimmung der künstlerischen Gestalt zeigt
sich die All-Verbundenheit und -Durchdrungenheit der Ganzheits-
lehre, „All“ verstanden als Kosmos des Geistes wie der Natur.
„G e s t a l t u n g " ist Rückverbundenheit in der Eingebung, „Ge-
stalt“ in diesem Sinne daher durchaus geistig. Als solche tritt sie uns
in den zeitlichen Künsten unmittelbar erlebbar entgegen: Die Sym-
phonie, das Drama, das Gedicht sind wesenhaft geistige Z e i t -
g e s t a l t e n . Die bildenden Künste aber haben es mit R a u m -
g e s t a l t e n zu tun. Wo ist hier ein Übergang oder irgendein
Verhältnis zwischen beiden zu finden? Diesen Übergang, diese
Brücke braucht Spann nicht erst zu suchen. Sie ist längst geschlagen
— in der N a t u r p h i l o s o p h i e !
Diese lehrt uns die Gestalt im Raume begreifen als ein nicht bloß
Räumliches, sondern als ein zugleich Uberräumliches, ebenfalls
Geistartiges. Denn die Gestalt ist ja ein ganzheitliches Gebilde, das
seine im Raum befindlichen, seine „daseienden“ Glieder auf einer
Ebene Zusammenhalten muß, die über dem „Dasein im Raume“ ist
und somit einen grundsätzlich überräumlichen, geistartigen Cha-
rakter hat. Aber nicht nur dies lehrt die Naturphilosophie. Sie un-
terscheidet auf dem Wege vom Uberräumlichen zur räumlichen
Gestalt „innere Haltestellen, Stadien, Seinsschichten“
1
.
1.
die v o r r ä u m l i c h e Wesenheit,
2.
die innere Rhythmik oder Z e i t g e s t a l t dieser Wesenheit,
3.die E i g e n s c h a f t e n , welche sich über die Verzeitli-
chung verräumlichen, und daraus folgend erst
4.
die R a u m g e s t a l t.
Nur über die Zeitgestalt kann die überräumliche Wesenheit zur
Raumgestalt werden! Die Zeitgestalt ist in der Natur gleichsam die
Geburtshelferin der Raumgestalt. Hier ist die Verbindung von Zeit
und Raum gegeben. Und dies ist offenbar der wahre Kern der heute
im Schwange stehenden Behauptung von der Zeit als angeblicher
vierter Dimension des Raumes. Was immer auch mathematische
Konstruktionen erfinden mögen, der sinnliche Raum hat in Wahr-
heit immer seine drei Dimensionen. Doch aus höherer Ebene, aus
der Zeitgestalt, gibt die Zeit ihm ein inneres Gefüge. Ü b e r Zeit
1
Naturphilosophie, 2. Aufl., Graz 1963, S.
66
[= Othmar Spann, Gesamtaus-
gabe, Bd 15].
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