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schaffenheiten der Verse geben uns bereits ein künstlerisches Bild

von dem inneren Gehalt des Dichtwerkes.

Das Schöne zeigt sich somit als ein „Ineinander von Gestalten

verschiedener Ebenen“

1

.

Dieser Wesensbefund wäre jedoch kein philosophischer, wenn die

Gestaltungsebenen nicht in ein Rangverhältnis zu einander gesetzt

würden, aus dem sich auch entscheidende Erkenntnisse über die

Beurteilung von Kunstwerken und Kunstströmungen ergeben. Nur

e i n e zeitgemäße Folgerung sei hier herausgegriffen.

Der Vorrang der Geistesgestalt vor allen übrigen Durchgestal-

tungen sowie jener der Raumgestalt vor der sinnlichen Gestalt, das

heißt, insbesondere der Zeichnung vor der Farbgebung, richtet die

gegenstandslose Kunst ebenso wie ein gestaltloses Farbgemälde der

modernen Kunst, wobei man allerdings auf einen Satz Hegels hin-

weisen könnte: „Die Magie des Scheins kann sich auch so überwie-

gend geltend machen, daß darüber der Inhalt der Darstellung gleich-

gültig wird, und die Malerei dadurch in dem bloßen Duft und

Zauber ihrer Farbtöne und der Entgegensetzung und ineinander-

scheinenden und spielenden Harmonie sich ganz ebenso zur Musik

hinüberzuwenden anfängt, als die Skulptur in der weiteren Aus-

bildung des Reliefs sich der Malerei zu nähern beginnt

2

.“ Hegel

sagt allerdings nicht, daß der Inhalt der Darstellung fehlen darf,

sondern nur, daß er gleichgültig wird. Die sogenannte „abstrakte“

Kunst kann wohl nur dann noch als Kunst gelten, wenn sie etwas

von der Struktur der Weltordnung in sich trägt oder doch wenig-

stens ihren Geheimnissen nachsinnt (wie die uralte Kunst der Orna-

mentik) und so gleichsam einen „Gegenstand höherer Ordnung“

darstellt — oder, soferne sie gar in das Innere der Natur, in die

überstoffliche Sphäre des Vorräumlichen einzudringen und deren

Verräumlichungskräfte festzuhalten vermöchte, was aber höchste

Kunstbegabung zur Voraussetzung hätte, eine Art von magischer

Ideenschau. Doch was vielleicht nur allergrößter Begnadung ge-

schenkt werden kann, wird in der Hand jedes anderen zur wesen-

losen Unkunst.

Einer Erklärung bedarf der Vorrang der Raumgestalt vor der

1

Siehe oben S. 109.

2

Hegel, W. W. X., Abt III, S. 73.