395
gleicht“
1
. Woher aber nimmt die Ganzheitslehre die Unterschei-
dung der Geistesbereiche, zu denen die Wissenschaften gehören, und
sodann die Grundeinteilung dieser selbst? Doch von den im Schöp-
fungsgang des Geistes aufgezeigten Geistesschichten! Und sollte nun
nicht auch für die Einteilung der Künste dasselbe Prinzip seine
Fruchtbarkeit erweisen? Wie sich die einzelnen Geistestätigkeiten in
der Art von einander unterscheiden, in welcher sie die Eingebung
erfassen und verarbeiten, so müßte sich auch der Reigen der Künste
aus derselben Unterscheidung entfalten lassen, so daß jede Kunstart
einer bestimmten Geistesschichte entspricht! Dazu kommt, daß es
zwei Reihen von Künsten gibt, nämlich jene, die sich in der Zeit,
und jene, die sich im Raume ausdrücken. Zeitgestalt und Raum-
gestalt waren ja bereits grundlegende Unterscheidungen.
Dem Auseinanderlegen der Eingebung entspricht das Wissen, der
Ineinssetzung die Kunst, woran sich als dritte Stufe das Handeln
anschließt. Jede Geistestätigkeit durchläuft alle Schichten, aber
e i n e ist jeweils besonders betont. Genau so in den Künsten:
Bei welcher Kunst liegt nun der Schwerpunkt auf dem Ausein-
anderlegen, auf dem Gegenständlichen, welche bedient sich sogar
einer begrifflichen Darstellung, wofür uns allein die Sprache zur
Verfügung steht? Es ist die D i c h t k u n s t , die ja auch von allen
Künsten der Begrifflichkeit der Philosophie am nächsten steht. Sie
ist eine Zeitkunst. Von den bildenden Künsten befindet sich auf
dieser Stufe diejenige, welche das Gegen-ständliche vor allem betont,
das Entgegensetzen ihrer Gestalten dem betrachtenden Auge gegen-
über: die Zeichnung, die M a l e r e i .
Die „Kunst“ unter den Künsten, diejenige unter allen Künsten,
in welcher die Gestalt ihre reinste Verkörperung findet, ist inner-
halb der Zeitkünste die M u s i k , der im Raume die „gefrorene
Musik“, die B a u k u n s t entspricht. Spann, für den die Musik die
metaphysischeste aller Künste ist, geht noch weiter und meint:
„Dem griechischen Tempel scheint uns der gotische Dom als wesent-
lich mystisches Tongebilde gegenüberzustehen“
2
. Und wie man die
Musik als die Kunst aller Künste bezeichnen kann, so die Baukunst
als die gestalthafteste unter allen Raumgestalten. Während die
Werke der Malerei und der Plastik dem Beschauer gegenüber stehen,
1
Siehe oben S.
280 Siehe oben S.
287