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Der Zustand
nach dem
Tode
Auch deine wiederholten Hinweise auf die Leiblichkeit zielen auf
Richtiges ab: Die Zwiespältigkeit, die wir in der stofflichen Gebun-
denheit des Geistes sehen, finden wir auch in der Fortdauer. Die
Frucht sinnlicher Erfahrung, so ist zu schließen, weil sie eine Aus-
bildung des Geistes bedeutet, wird bleiben, das Sinnlich-Stoffliche
selbst vergeht.
Nicht in irdischer Fülle kann der Geist erhalten bleiben, aber
wohl in dem Maße, als er sein überstoffliches Wesen durch innere
Selbstsetzung, unversiegliches Schöpfertum entfaltete, zu sich selbst
kam, seiner selbst Meister wurde!
Das ist die Bestimmung des Menschen.
Der Mensch ist für die Zeit und für Ewigkeit. Was seiner selbst
mächtig ist, bleibt bestehen, denn es ist in seiner eigenen Obhut.
Die zeitlichen Setzungen vergehen, die ausgliedernde, schöpferische
Einheit bleibt.
Hier hast du das Fundament der Unsterblichkeit.
Der Zerstreuer:
Und der Zustand nach dem Tode?
Der Sammler:
„Nach drüben ist die Aussicht uns verrannt.”
Der Zerstreuer:
Was soll ein Fundament, auf dem kein Gebäude aufgeführt wer-
den kann?
Der Sammler:
So sei’s denn gewagt!
Auch hier gilt es zuerst einen Irrtum wegzuräumen. Der heutige
Mensch hat ein falsches Bild des Todes vor Augen. Er meint, Tod
sei einfach ein Aufhören: der Leib stirbt, das Leben schwindet
und der Geist ebenfalls. Gerade so ist es nicht und kann es nicht
sein. Tod ist radikale Umwandlung. Und eben weil der Tod eine
radikale Umwandlung des Geistes ist, kann der Gestorbene nicht
in der früheren Weise mit uns verkehren.
Der Zerstreuer:
Wie soll das zugehen?
Der Sammler:
Nun, ohne jeden Hinweis darauf läßt uns unsere Erfahrung nicht.
Denn das Künftige ist im Gegenwärtigen schon auf verborgene Weise
vorgebildet, gleichwie die Lunge im ungeborenen Kinde.