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Der „Individualismus“ betrachtet dagegen den Einzelnen als erst-
gegeben und völlig selbstherrlich.
Es ist klar, daß die volle Erfassung dieses Gegensatzes zu einer
Bewährung in der Gesellschaftslehre drängte, die auch alsbald (1914)
folgte. Hier wird in strenger Analyse erwiesen, daß jede Lehre,
welche die Gesellschaft als eine Summe selbständiger und vonein-
ander unabhängiger Einzelner auffaßt und daraus die Forderung
nach möglichster Aufhebung aller Bindungen ableitet, in die Irre
geht. Es wird gezeigt, daß vielmehr alles geistige Leben „schöp-
ferische Wirkung der Menschen aufeinander“, gegenseitige „Auf-
erweckung, Bereicherung, Neuschaffung, Anregung“ sei. Solche Ge-
genseitigkeit, wie sie „innerer Widerhall notwendig erzeugt, das ist
der Kern und das eigentliche Wesen geistiger Gemeinschaft“
1
. Die-
ser Gesellschaftlichkeit alles geistigen Lebens entspricht die Gesell-
schaftlichkeit alles Handelns. Das „Individuum“ besteht nur als An-
lage, als Bündel von Möglichkeiten (Begabungen), die durch Ge-
meinschaft erweckt und ausgebildet werden. Das geht so weit, daß
tatsächlich nur jene Anlagen zu voller Entwicklung kommen kön-
nen, die Elemente der jeweiligen Gesellschaft sind. Doch bleibt das
unmittelbare Verhältnis zur Gemeinschaft und die gegenseitige Ent-
sprechung, in der sich die Anlagen entwickeln, immer Sache des
Individuums. Entgegen den Voraussetzungen des „Individualismus“
wird die Persönlichkeit um so kräftiger hervortreten, je eindring-
licher sich die Auseinandersetzung mit der geistigen und sachlichen
Umwelt vollzieht.
Schon die Erstauflage der „Gesellschaftslehre“ enthält einen
eigenen Abschnitt (Viertes Buch), in welchem sich Spann auch mit
den philosophischen Theorien auseinandersetzt. Besonders Kant und
Fichte werden als „Begründer der Gesellschaftslehre“ ausführlich
besprochen, und eine tiefe Vertrautheit mit ihren Gedankengängen
wird offenbar.
Beim Aufbau seiner volkswirtschaftlichen Vorlesungen müssen
Spann — wie das 1918 erschienene Buch „Fundament der Volks-
wirtschaftslehre“ zeigt — auch schon weitgehend philosophische
Gedankengänge geleitet haben. Er will die Wirtschaft „als ein Stück
des Lebens, das Handeln als einen Ausdruck des Geistes, die Volks-
wirtschaft als Teil und Glied der Gesellschaft“ erfassen. Die Volks-
wirtschaftslehre soll „Anschluß an die Gesellschaftswissenschaft, ja
noch mehr, den Anschluß an die philosophischen Grundlagen ge-
sellschaftlichen Wissens finden“
2
. So wird die Unzulänglichkeit rein
1
Othmar Spann: Gesellschaftslehre, 1. Aufl., Berlin 1914, S. 29.
2
Othmar Spann: Fundament der Volkswirtschaftslehre, 1. Aufl., Jena
1918, S. V.