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Trotz aller derartigen Mängel ist der Schafflesche Entwurf eine

wahrhaft großartige Anschauung von der Gesellschaft, ihrem Wer-

den, ihrer Differenzierung und dem funktionellen Zusammenspiel

ihrer Teile; eine Fülle neuer subtilster sozialer Funktionen und Ge-

staltungen, neuer Abstraktionen, neuer Gesichtspunkte treten uns

entgegen. Wenn Karl Marx die Gesellschaft zum ersten Male wahr-

haft historisch angeschaut hat, so Schäffle zum ersten Male funktio-

nell, in innerem Zusammenhange und ihrer Differenzierung.

Gewiß spricht der Entwurf nicht das letzte Wort in der Bestim-

mung und Klassifikation der gesellschaftlichen Erscheinungen, aber

er ist ein sehr umfassender, von Reichtum und Wahrheit der Beob-

achtung getragener Anfang zu einer exakten Theorie der Gesell-

schaft. Er stellt die weitaus beste diesbezügliche Leistung der Sozio-

logie dar. Nicht nur sind die (in „Bau und Leben“ niedergelegten)

selbständigen analytischen Untersuchungen der einzelnen Sozial-

gebilde an sich sehr wertvoll; die anregende Kraft, die der zugrunde

liegenden Theorie der Klassifikation innewohnt, ist eine hohe. Es ist

denn davon in der Tat auch die Schaffung n e u e r T e i l - D i s z i -

p l i n e n ausgegangen: die soziale Raum- und Zeitlehre und die

Lehre von den Massenzusammenhängen (ähnlich der französischen

Massenpsychologie). Auch eine soziale Lehre der Technik oder „tech-

nische Ökonomik“ — wie sie neuerdings mehrfach versucht wird —

ist in Schäffles Soziologie vorgebildet. Die soziale Raum- und Zeit-

lehre

1

hat bereits in S i m m e l einen tüchtigen Fortbildner gefun-

den

2

.

Von den Massenzusammenhängen

3

bemerkte Schäffle mit Recht,

daß die Gesellschaftslehre den mit ihnen gegebenen Tatsachen noch

nicht einmal den allgemeinsten Platz im Systeme anzuweisen ver-

1

Albert Schäffle: Bau und Leben des sozialen Körpers, Bd 2, 2. Aufl., Tü-

bingen 1896, S. 96—165.

2

Georg Simmel: Soziologie des Raumes, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetz-

gebung, Verwaltung und Volkswirtschaft, Jg 27, Heft 1, Leipzig 1903, S. 27—71.

Diese Untersuchungen sind im übrigen ganz selbständig.

3

Die Massenzusammenhänge sind nach Schäffle freie, das heißt nicht förmlich

organisierte, ideelle Verbindungen, welche „durch symbolischen Austausch von

Gefühlen, Bestrebungen und Einsichten zwischen geistig gleichgesinnten... Per-

sonen“ stattfinden. (Albert Schäffle: Bau und Leben des sozialen Körpers, Bd 1,

2. Aufl., Tübingen 1896, S. 87.) Hierher gehören: Klasse, Stand, „Schule“, Partei,

Freundschaft usw.