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s c h i c h t e nähert sich dem, indem sie als Kunst das Allgemeine
im Besonderen anschaut und so noch am ehesten das gesamte Leben
der Menschheit in genialem Überblicke erfaßt.
Nach ihrem i n n e r e n A u f b a u e zerfallen aber die gesell-
schaftlichen Erscheinungen nur in zwei Klassen: in Systeme der Kul-
tur und in die Systeme der äußeren Organisation der Gesellschaft.
Die Systeme der Kultur sind gesellschaftliche Gebilde, die auf einem
andauernden, der Menschennatur wesentlichen Zweck gegründet
sind. Dieser Zweck setzt psychische Akte innerhalb des Individuums
in Beziehung zueinander und bringt auf Grund der Gleichartigkeit
und Mitteilbarkeit, die ihm als wesentlicher Bestandteil der Men-
schennatur zukommt, durch W e c h s e l w i r k u n g z w i s c h e n
d e n I n d i v i d u e n einen gemeinsamen Lebensinhalt derselben
hervor. Die Kultursysteme sind sonach als (kollektive) Z w e c k -
z u s a m m e n h ä n g e , in welchen die einzelnen psychischen Akte
zu einem Gesamtzusammenhang verknüpft erscheinen, der über das
Individuum hinausgeht, zu charakterisieren. So ist das System der
Wirtschaft als Zweckzusammenhang der Befriedigung materieller
Bedürfnisse, das System der Religion als Zweckzusammenhang der
Gottesidee, das Recht als Zweckzusammenhang des Rechtsbewußt-
seins zu begreifen. Die als Teilinhalte der Wirklichkeit und relativ
selbständigen, sowohl untereinander, wie mit der äußeren Organi-
sation in komplizierter Beziehung stehenden Systeme der Kultur
sind: Wirtschaft, Sittlichkeit, Sprache, Religion, Kunst und Wissen-
schaft (und das Recht).
In den Kultursystemen sind nach Dilthey zweierlei Abhängig-
keiten enthalten, welche die Wissenschaft zu erforschen hat: solche,
welche zwischen den einzelnen psychischen Elementen der verschie-
denen Individuen bestehen (also W e c h s e l w i r k u n g z w i -
s c h e n d e n I n d i v i d u e n ) ; und solche, welche zwischen den
Eigenschaften dieser Elemente selbst bestehen (also W e c h s e l -
w i r k u n g z w i s c h e n p s y c h i s c h e n E i n h e i t e n i n -
n e r h a l b d e s I n d i v i d u u m s )
1
. Als Beispiel für die erst-
1
Wilhelm Dilthey: Einführung in die Geisteswissenschaft, Bd 1, Leipzig 1883,
S. 54 ff.: Der Begriff des Kultursystems ist also doch psychologisch definiert trotz
der Bestimmung als Zweckzusammenhang! Diese Bestimmung ist sehr wertvoll,
trifft aber doch nicht das Richtige (— es müßte von einem Zusammenhang der
M i t t e l gesprochen werden [siehe unten letzten Abschnitt des V. Kapitels] —),