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Gesellschaftswissenschaft zur Seite treten soll. Die Rechtswissenschaf-
ten nehmen eine eigentümliche Zwitterstellung ein.
Das Recht liegt nach Dilthey einerseits sowohl den Funktionen
der äußeren Organisation zugrunde, als es auch andererseits selbst
eine Funktion dieser äußeren Organisation ist. Im Rechte ist Kul-
tursystem und äußere Organisation der Gesellschaft noch ungeschie-
den beisammen. „Das Recht hat weder vollständig die Eigenschaft
einer Funktion des Gesamtwillens, noch vollständig die eines Systems
der Kultur.“
1
Es muß einerseits als Zweckzusammenhang begriffen
werden, und zwar als „ein auf das Rechtsbewußtsein als eine be-
ständig wirkende psychologische Tatsache gegründeter Zweckzu-
sammenhang“
2
; andererseits enthält jeder Rechtsbegriff das Moment
der äußeren Organisation der Gesellschaft in sich. „Die beiden Tat-
sachen des Zweckzusammenhanges im Rechte und der äußeren Or-
ganisation der Gesellschaft sind korrelativ.“
3
Dilthey bezeichnet das
Verhältnis zwischen äußerer Organisation und Recht als „eine der
schwierigsten Formen kausaler Beziehung“, welches „nur in einer
erkenntnistheoretischen und logischen Grundlegung der Geistes-
wissenschaften aufgeklärt werden kann“
4
.
Gehen wir sogleich zur Kritik dieser Lehre über, die als erste be-
wußte und methodisch begründete Zerlegung der Gesellschaft in
Objektivationssysteme Bewunderung abnötigen muß, so wird es
sich vor allem um die Prüfung der Unterscheidung der zwei großen
Gruppen von Teilinhalten handeln: der Kultursysteme und der
äußeren Organisation der Gesellschaft; jene werden als „frei auf-
einander bezogenes Tun“ diese als „konstante Beziehungen“ in der
Form von Leistungen des Gesamtwillens bezeichnet. Demgemäß ist
zunächst zu untersuchen, ob die bestehenden Unterschiede zwischen
diesen beiden Phänomenen wirklich derart sind, daß sie eine solche
prinzipielle Trennung rechtfertigen
5
.
1
Wilhelm Dilthey: Einführung in die Geisteswissenschaft, Bd 1, Leipzig 1883,
S. 71.
2
Wilhelm Dilthey: Einführung in die Geisteswissenschaft,
a. a. O., S. 80.
3
Wilhelm Dilthey: Einführung in die Geisteswissenschaft,
a. a. O., S. 70.
4
Wilhelm Dilthey: Einführung in die Geisteswissenschaft,
a. a. O., S. 69.
5
Dieselbe läuft auf eine ähnliche, wenn auch nicht gleichschroffe(und ins-
besondere e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h nicht gleichartige) Sonderstellung der
Regelung hinaus, wie sie z. B. bei S t a m m l e r u n d K i s t i a k o w s k i vor-
handen ist. Noch mehr Ähnlichkeit hat sie mit der allerdings wesentlich besser